Lostforschung

Der Kampfstoff Lost („Senfgas“ oder „Gelbkreuz“), beschäftigte nach 1933 mehrere Forschergruppen der Universität: das Chemische und das Pharmakologische Institut sowie die Hautklinik.
Der Kampfstoff selbst galt als geeignetes Mittel in der defensiven Kriegsführung, zum Beispiel für die Vergiftung von Schlachtfeldern. Seine Weiterentwicklung war dem Deutschen Reich gemäß dem Versailler Vertrag verboten. Die Siegermächte trieben ihre Forschungen allerdings voran. Im Deutschen Reich wurden daher seit den 1920er Jahren wissenschaftliche Untersuchungen zum Kampfstoff unter dem Etikett des „Gasschutzes“ betrieben. Der 1935 nach Greifswald versetzte Chemiker Gerhart Jander forschte an der Universität Göttingen zum Beispiel zu sogenannten Maskenbrechern, Substanzen, die die Soldaten dazu zwangen ihre Gasmasken abzunehmen, und sich so dem eigentlichen Kampfstoff auszusetzen. Wissenschaftlich anspruchsvoller waren seine Studien zur Herstellung von Aerosolen, also zur Vernebelung des eigentlich zähflüssigen Kampfstoffes, die er auch in Greifswald fortsetzte. Sein Assistent Karl Ernst Stumpf habilitierte sich 1943 zum Verhalten einer Modellsubstanz im Aerosol.

Der 1935 nach Greifswald berufene Leiter der Hautklinik Wilhelm Richter wandte sich ein Jahr später der Lostforschung zu. 1937 wurde er auch Leiter der Fachsparte Wehrmedizin im Reichsforschungsrat. In seiner Klinik ließ er Patienten, die unter Hauttuberkulose litten, ohne ihr Wissen mit dem Kampfstoff Lost behandeln. Außerdem entfernte er Tätowierungen mit der ätzenden Substanz. Seine Assistenzärzte protokollierten die zum Teil erheblichen Nebenwirkungen dieser „Behandlungen“. Außerdem versuchte eine Arbeitsgruppe durch zahlreiche Tierversuche die biochemischen Reaktionen des Kampfstoffs im Körper nachzuvollziehen, was jedoch nicht gelang. Die Experimente endeten mit Kriegsbeginn. Richter veröffentlichte die Ergebnisse 1941in einem Buch zum Thema „Kampfstoffwirkung und Heilung“.

Die Lostforschungen im Pharmakologischen Institut und Physiologisch-chemischen Institut wurden unabhängig von den Forschungen in der Hautklinik durchgeführt. Der Leiter des Pharmakologischen Instituts Paul Wels hatte seine Forschung über die Wirkungen von Eiweißlösungen bereits 1937 auf die Behandlung von Lostschäden durch solche Verbindungen umgestellt. Der 1934 berufene Physiologe Felix Adolf Hoppe-Seyler schloss sich dieser Forschungergruppe an. Gleichzeitig untersuchte er Schockzustände bei Hunden, um deren biochemische Ursachen aufzuklären. Wels und Hoppe-Seyler wurden 1940 zur Militärärztlichen Akademie eingezogen. Hier arbeiteten sie in der Lehrgruppe C, einer Abteilung, die sich unter anderem mit der Kampfstoffforschung befasste. Wels und Hoppe-Seyler waren damit in ein Forschungsnetzwerk eingebunden, das mehrere Universitäten und Industrielabore umfasste und auch Beziehungen zur SS unterhielt. So erhielten sie auch Einblick in Forschungsergebnisse, an denen sie selbst nicht beteiligt waren.
Nach der Zerstörung der Militärärztlichen Akademie bei einem Bombenangriff 1943, wurde im Pharmakologischen Institut ein Labor errichtet, das mit Absaugeinrichtungen und speziellen Arbeitskammern den Anforderungen an ein Kampfstofflabor entsprach. Im Auftrag der IG-Farben testeten Wels und Hoppe-Seyler hier vor allem chemische Verbindungen, die den Heilungsprozess von Lostschäden unterstützen sollten. Dazu wurden Studenten mit dem standardisierten „Prüflost“ verletzt, dann wurden verschiedene Cremes und Pulver aufgetragen. Für diese Menschenexperimente erhielt das Institut eine Erlaubnis der Heeressanitätsinspektion. Die Teilnehmer waren freiwillig, gehörten aber überwiegend den Studentenkompanien künftiger Militärärzte an, so dass ein hoher Konformitätsdruck geherrscht haben dürfte. Die Versuche wurden nach 1945 nicht zum Gegenstand juristischer Aufarbeitung, weil kein Proband verstarb. Wels setzte seine Lehrtätigkeit fort, Hoppe-Seyler, nach 1945 kurzfristig Dekan der Medizinischen Fakultät, starb 1946 an Diabetes.